VOM NACHTEIL, GEBOREN ZU SEIN
Hörstück von Kai Grehn
Aus dem Französischen von François Bondy
Es sprechen (in alpabethischer Reihenfolge): Florian Anderer, Kathi Angerer, Hendrik Arnst, Paula Beer, Bibiana Beglau, Benjamin Berger, Luise Berndt, Johanna Bittenbinder, Sebastian Blomberg, Bärbel Bolle, Niels Bormann, Jule Böwe, Maximilian Brauer, Heinz-Josef Braun, Margartita Breitkreiz, Volker Bruch, Matthias Buss, Jean-Piere Cornu, Brigitte Cuvelier, Maren Eggert, Josephine Ehlert, Lars Eidinger, Alexander Fehling, Samuel Finzi, Georg Friedrich, Pippa Galli, Robert Gallinowski, Claudia Geißler, Christian Grashof, Claudia Graue, Bernd Grawert, Olivia Grigolli, Robert Gwisdek, Jörg Hartmann, Franz Hartwig, Irm Hermann, Jonas Hien, Fabian Hinrichs, Brigitte Hobmeier, Marc Hosemann, Thomas Huber, Eva Irion, Ueli Jäggi, Peter Jordan, Mario Klischies, Wolfram Koch, Eva Maria Kurz, Vincent Leittersdorf, Christoph Letkowski, Ulli Lommel, Inka Löwendorf, Felix von Manteuffel, Dagmar Manzel, Matthias Matschke, Annika Meier, Marcus Melzwig, Sarah Sophia Meyer, Birgit Minichmayr, Christopher Nell, Josef Ostendorf, Mira Partecke, Milan Peschel, Uli Plessmann, Trystan Pütter, Anne Ratte-Polle, Bastian Reiber, Judith Rosmair, Lars Rudolph, Mandy Rudski, David Ruland, Marianne Sägebrecht, Alexander Scheer, Hans Schenker, Mex Schlüpfer, Andreas Schmidt, Martin Schneider, Kay-Bartholomäus Schulze, Jannik Schümann, Sebastian Schwarz, Michael Schweighöfer, Marie-Lou Sellem, Jeanette Spassova, Lilith Stangenberg, Lore Stefanek, Ernst Stötzner, Bettina Stucky, Christine Urspruch, Sebastian Urzendowsky, Ulrich Voß, Axel Wandtke, Harald Warmbrunn, Jens Wawrczeck, Kathrin Wehlisch, Angela Winkler, Dolores Winkler, Luise Wolfram, Doris Wolters, Franziska Wulf, Almut Zilcher
Chorkomposition: Helmut Oehring / Vokalensemble Stuttgart
Musikaufnahmen: Thomas Angelkorte
Musikbearbeitung: Kai Grehn & Paul Stretch
Ton & Technik: Daniel Senger & Marcus Krol
Regieassistenz: Ronald Klein
Länge: 68:30 min (Short Cut: 54 min)
Dramaturgie: Manfred Hess
Regie: Kai Grehn
Eine Produktion des SWR mit freundlicher Unterstützung der Volksbühne Berlin sowie der Schaubühne Berlin 2013
Für die Unterstützung bedankt sich Kai Grehn besonders herzlich bei Thomas Martin, Sabine Zielke und Jule Böwe, sowie bei Alexander Brennecke, Dietmar Rötzel und Sonja Röder.
CIORAN: Das ideale Wesen? Ein vom Humor verwüsteter Engel.
In der griechischen Mythologie foltert König Midas den Satyr Silenos, um endlich in Erfahrung zu bringen, was für des Menschen Wohl das Beste sei. Die Antwort wurde u. a. von Aristoteles überliefert: »Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein.«
E. M. Ciorans Aphorismenbuch »Vom Nachteil, geboren zu sein” nimmt direkten Bezug auf die »Weisheit des Silenos«: seine 1973 erschienenen »Miniessays« sind Wirklichkeitskritik, die sich jedoch eine letzte Instanz der Wahrheit, die Intimität des Einzelnen, offenhält. Einzig möglicher Ausdruck des Versuchs, dem »Rausch der Auswegslosigkeit« Gestalt zu geben, sind bei Cioran Musik und Poesie. Formulierbare “Wahrheit” beginnt für ihn in dem Augenblick, in dem sie sich selbst aufhebt. “Letzteres ist für mich der Anknüpfungspunkt für eine Hörspielarbeit nach Ciorans Buch »Vom Nachteil, geboren zu sein«. 101 Aphorismen dieses großstädtischen Einsiedlers werden 99 Schauspielern in den Mund gelegt. Die „Spezies Mensch“ selbst ist es, die vom Nachteil spricht, geboren zu sein, wobei jeder einzelne Aphorismus von einem anderen Sprecher interpretiert wird, die „Intimität des Einzelnen“ erfährt, um durch den nächsten Sprecher sogleich wieder aufgehoben zu werden usw. usf.
Ciorans Denken war und bleibt ein Skandalon. Dem Werk dieses Außenseiters und aus Prinzip Gescheiterten eine Hörspielarbeit zu widmen, scheint mir Pflicht und Kür zugleich.” (Kai Grehn)
Philosophisch-dialektische Kassiber
“Der Regisseur und Autor Kai Grehn hat Ciorans Aphorismus-Sammlung “Vom Nachteil, geboren zu sein” aus dem Jahr 1979 zur Basis von 101 Sentenzen, Gedanken und Verlautbarungen verdichtet. Er hat dabei das weit umfangreichere Original zu einer akustischen Gedankenansammlung verschränkt, die von einem überraschend großen Stimmencorpus aus Schauspielern der Volksbühne und Schaubühne Berlin gesprochen wird. Kai Grehn schreibt in einem Vorwort zu der Radioproduktion nach dem gleichnamigen Buch Ciorans: „Diese Mini-Essays sind Wirklichkeitskritik, die sich jedoch eine letzte Instanz, die Intimität des Einzelnen, offenhält. Die grundlegende Aussage ist, dass sich viele unserer abendländischen Denkkategorien und gängigen Vorstellungen als substanzlos erwiesen haben. Cioran lässt nur Musik und Poesie, eigentlich nur das Gefühl, die Intuition gelten.“ Es werden große und kleine Sätze entzündet, Gedanken dialektisch überprüft, Ideologien zertrümmert:
“Könnte man sich mit den Augen der andern sehen, man würde sogleich spurlos verschwinden.”
“Der Aphorismus? Ein Feuer ohne Flamme. Man versteht, dass niemand sieh daran wärmen möchte.”
“Immer wenn ich ans Wesentliche denke, so scheint mir, es im Schweigen oder in der Explosion zu ahnen. Nie im Wort.”
“Der Schrei hat nur Sinn in einer erschaffenen Welt. Wenn es keinen Schöpfer gibt, was bedeutet es dann, die Aufmerksamkeit auf sieh zu lenken?”
Es braucht eine gewisse Zeit, bis sich das Ohr auf die Nachrichten des “Skeptikers vom Dienst einer untergehenden Welt” (Cioran über Cioran) einstimmt. Doch die sehr ruhige Sprechweise der Schauspieler, die sich in dieser SWR-Produktion Zeit nehmen und Zeit lassen, entführt den Hörer in einen wunderbaren Absurditäten-Kosmos, in dem alles möglich wird und das Unwahrscheinliche sich zum Plausiblen und Natürlichem wandelt und auch das Frage- und Antwortspiel “Das ideale Wesen? Ein vom Humor verwüsteter Engel” – plötzlich sehr einsichtig scheint.”
(Christian Hörburger, Funkkorrespondenz, 06.12.2013)