Causa Jeanne d'Arc

Kai Grehn DIE CAUSA JEANNE D‘ARC

Mit: Roxane Duran, Ulrich Noethen, Marie-Lou Sellem, Manuel Harder, Marek Harloff, Sebastian Blomberg, Josef Ostendorf, Vincent Leittersdorf, Fabian Hinrichs, Sascha Geršak, Jens Wawrczeck, Clemens Schick, Volker Bruch, Jannik Schümann, David Bennent, Bernhard Schütz, Felix Goeser, Eva Weißenborn, Samuel Finzi, Wolfgang Michael, Felix Kramer, Robert Gallinowski, Lars Rudolph, Sebastian Urzendowsky, Niels Bormann, Boris Aljinovic, Horst Hildebrandt, Andreas Leupold, Christopher Nell, Pascal Lalo, Claudia Graue, Almut Zilcher, Marcus Melzwig, Jule Böwe, Rosalinde Renn, Constanze Becker
Komposition: alva noto
Gesang: Claudia Graue, Marcus Melzwig
Wortaufnahmen: Martin Seelig, Jean Szymczak, Kathrin Witt
Ton & Technik: Daniel Senger & Sonja Röder
Regieassistenz: Eunike Kramer
Länge: Teil 1 – Verurteilungsprozess: 95:47 min (oder als zweiteilige Fassung 2 x 49 min)
Teil 2 – Rehabilitierungsprozess – Die Eröffnung: 77:29 min (oder als zweiteilige Fassung 2 x 40 min)
Teil 3 – Rehabilitierungsprozess – Das Urteil: 83:08 min (oder als zweiteilige Fassung 2 x 43 min)
Dramaturgie: Andrea Oetzmann
Regie: Kai Grehn
Produktion: Südwestrundfunk mit dem Rundfunk Berlin Brandenburg 2023
Kai Grehn bedankt sich bei der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und dem Literarischen Colloquium Berlin für die Förderung der Arbeit am Manuskript durch ein Stipendium für deutsch-polnische Drehbuch- und Bühnenautoren in der Villa Decius Kraków.
 

JEANNE D’ARC: Es gibt unter Kindern ein Sprichwort, das besagt: „Manchmal wird man gehängt, weil man die Wahrheit sagt.“

Der Anfang der Geschichte erinnert an Greta Thunberg: Ein junges Mädchen verleiht sich selbst moralische Autorität, marschiert in die Paläste der Mächtigen und kämpft an der Spitze Vieler, um Großes zu bewirken. Für die einen eine naive, nervige und anmaßende Jugendliche. Für die anderen Lichtgestalt und Heldin. Unbestritten bleibt: Sie ist außergewöhnlich mutig und entschlossen.
Im Jahr 1429, Frankreich ist von den Engländern besetzt, macht sich das 17jährige Bauernmädchen Jeanne aus dem lothringischen Dorf Domrémy auf nach Chinon zu Frankreichs Thronfolger Karl VII., in Hosen und zu Pferd. Um ihm so entschlossen wie offenherzig auszurichten: „Ich habe zwei Aufträge vom Himmelskönig: Erstens, die Belagerung von Orléans aufzuheben. Zweitens, den König zur Salbung und Krönung nach Reims zu führen.“
Was heute unglaublich erscheint: ihre Mission überzeugt. An der Spitze der französischen Armee befreit Jeanne d‘Arc am 8. Mai 1429 Orléans von den Engländern, wird von den Massen bejubelt und geleitet den Dauphin zu seiner Krönung in Reims: Mission accomplie. Danach braucht der Herrscher sie nicht mehr. Er unternimmt nichts, als Jeanne d‘Arc 1430 bei Compiègne von den Burgundern gefangengenommen und gegen eine hohe Summe an die Engländer ausgeliefert wird. Und als der Wind sich dreht, sieht auch der Klerus die einstige von Gott gesandte Jungfrau plötzlich als durchtriebene Ketzerin. Der Inquisitionsprozess, geführt vom proenglischen Bischof Pierre Cauchon, endet für Jeanne nach einer Reise durch verschiedene Gefängnisse am 30. Mai 1431 auf dem Marktplatz in Rouen. Dort wird die 19jährige auf einem Scheiterhaufen lebendig verbrannt.
25 Jahre später wird das Urteil dieses Prozesses revidiert. Im Jahr 1909 wird Jeanne d’Arc von der katholischen Kirche selig – und 1920 heiliggesprochen.
Der Schauprozess von 1431 und das Rehabilitationsverfahren 1456 wurden akribisch protokolliert und über die Jahrhunderte hinweg bewahrt. Kai Grehn inszeniert die wichtigsten Aussagen aus beiden Verhandlungen als genaues, eindringliches Courtroom drama, das Einblicke gibt in die Persönlichkeit einer außergewöhnlichen jungen Frau. Und die Ränke und Winkelzüge der rund 60 Kleriker und Juristen beleuchtet, denen sie allein, ohne Anwalt – und in Männerkleidung – gegenübertrat. Und schließlich zum Opfer fiel.

GESPRÄCH mit Kai Grehn über die Produktion

Radikale Abrechung

„So stilsicher wie durchdacht lässt Kai Grehn als Autor und Regisseur Jeanne ihr Geheimnis und ihr Alleinstellungsmerkmal, wenn er die – uns heutzutage fernen – metaphysischen Stimmen im Hörspiel mehrfach erwähnt, aber nie einblendet. Er entmythisiert diese Stimmen aber auch nicht, indem er sie etwa auf im Volk tatsächlich verbreitete Stimmungen gegen die Besatzer zurückführte. Nur Jeanne allein hört diese Stimmen in visionären Momenten, um ihnen danach zu gehorchen. Und nur Jeanne selbst kann und soll hier, ähnlich alttestamentlichen Propheten, in die politische Geschichte eingreifen und diese Aufträge erfüllen.
Im Sinne dieser komplexen Motivation hat Kai Grehn „Die Causa Jeanne d’Arc“ als raffiniertes viereinhalbstündiges Verhörspiel angelegt, das auf weite Strecken Ereignisse nachträglich rekapituliert, aber auch vorwärtsdrängend gewichtet. Das Stück weist über sich hinaus, wenn es Jeannes Profil weiterdenkt und spätere Parallelen nahelegt.
Im Hörstück ist Jeannes Rehabilitierung keine Fußnote, sondern ein großangelegter Entwurf in zwei Ansätzen, die Kontrast- und Komplementärdramaturgie prägt. Der Bestandsaufnahme friedlichen Lebens folgt die radikale Abrechnung mit Rechtsverstößen im Prozess von Rouen. Gestützt auf Dokumente entlarvt das Stück falsche Zeugen, manipulierte Protokolle, Zwang gegen Beisitzer, Gewaltattacken und Grausamkeiten gegen Jeanne. Das Leiden von Gerichtsschreibern, die, zwischen Verrat an Jeanne und eigener Lebensbedrohung hin- und hergerissen, Aufzeichnungen fälschen sollten, gehört zum Sündenregister des Bischofs von Beauvais. Modellhaft seziert das Hörspiel hier ein quasitotalitäres Unrechtsregime: Der Wahn war groß, danach gibt es die Chance zur Wahrheitssuche. Grehn nutzt sie.“

(Eva-Maria Lenz, epd medien, 05.05.2023)

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