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Kai Grehn DER PROZESS TALAAT PASCHA

Sprecher: Jens Wawrczeck, Jürgen Hentsch, Dieter Mann, Astrid Meyerfeldt, Klaus Barner, Traugott Buhre u.v.a.
Ton & Technik: Daniel Senger & Judith Rübenach
Länge: 63 min
Dramaturgie: Ursula Ruppel
Regie: Leonhard Koppelmann
Eine Produktion des SüdWestFunk mit Deutschlandradio Kultur, 2001

 

ZEUGIN TERSIBASCHIAN: Was ich erzählt habe, ist noch weniger als die Wirklichkeit. Es war sehr viel schlimmer.

„Am 2. und 3. Juni 1921 steht der armenische Student Soromon Tehlerjan vor einem Berliner Gericht. Er hat einen früheren türkischen Großwesir auf offener Straße erschossen. Aber schon zu Beginn des Prozesses wird deutlich, dass nicht der Student allein auf der Anklagebank sitzt. Denn sein Opfer Talaat Pascha, ehemals türkischer Innenminister, war hauptverantwortlich für die Deportation und Ermordung der Armenier im Jahr 1915, als innerhalb weniger Monate 1,4 der 1,8 Millionen Armenier deportiert und zum größten Teil ermordet worden waren – inklusive der Familie Tehlerjans. Nach dem Krieg war Talaat Pascha geflohen und in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden.
Kai Grehns 62-minütiges Hörspiel „Der Prozess Talaat Pascha” liegt der stenographische Bericht über die Gerichtsverhandlung zu Grunde, der Peter Weiss Stoff für eine zweite Ermittlung” hätte liefern können. Außerdem werden die historischen Hintergründe über die Vernichtung der Armenier dargestellt (schon 1895/96 gab es erste Massaker), mit der das Jahrhundert der Völkermorde begann, das 1995 in Ruanda endete. Die Ausformungen des Völkermords ähneln sich: Legitimationsgrundlage liefert der vorgebliche Volkszorn gegen eine ausbeuterische, andersgläubige und ethnisch verschiedene Minderheit.
Natürlich gab es diesen Volkszorn der moslemischen Türken gegen die christlichen Armenier im vorhinein nicht. Der genozidale Furor unter Anteilnahme der plündernden Bevölkerung war vielmehr Ergebnis planvoller administrativer Maßnahmen. „Der Ort der Verbannung ist das Nichts” schreibt Talaat Pascha in einer seiner zahlreichen Depeschen, die die Vernichtung organisierten, und das ist noch die ‚poetischste‘ Aussage – sonst wird er, was die Exekutionen und ihre Vertuschung betrifft, sehr viel konkreter. Das Warum des Völkermords bleibt letztendlich ungeklärt, die Hypothese eines zeitgenössischen Sachverständigen verweist indes darauf, dass nach dem Niedergang des Osmanischen Reiches die Armenier als letzte einer alltürkischen Nation im Wege standen – und außerdem die letzte Volksgruppe war, auf die man noch Zugriff hatte. Bis heute leugnet die türkische Regierung den Völkermord an den Armeniern. (…)
Kai Grehn und sein Regisseur Leonhard Koppelmann nennen ihre Vorgehensweise “halbdokumentarisch” und schaffen es, Spannung zu erzeugen, ohne die Schrecken der Vernichtung in den Hintergrund treten zu lassen und ohne auf die Emotionalität amerikanischer Justizdramen zurückzugreifen.“
(Jochen Meißner, Funkkorrespondenz, 15.06.2001)