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Kai Grehn DER BERG, ÜBER DEN KEIN VOGEL FLIEGT – Leseprobe

© henschel SCHAUSPIEL

 
 
 

(…)

EXPEDITIONSLEITER (stimme aus hermanns walkie-talkie):
Hier Schneeanker… Schneeanker an weiße Krähe: Kommen… Hier Schneeanker… Schneeanker an weiße Krähe. Weiße Krähe. Bitte kommen…

(im licht des hervortretenden tages wird eine mächtige steilwand sichtbar und eine schmale terrasse, felsvorsprung in ihr, auf der der bewußtlose hermann liegt, bedeckt vom schneestaub der abgegangenen lawine, auf seinem bein ein großer eisbrocken.)

HERMANN (im halbschlaf ins walkie-talkie):
Krah Krah. Hier weiße Krähe. Wer da?

EXPEDITIONSLEITER:
Hermann? Hermann bist du das? Over.

HERMANN:
Oswald, ich sollte einen Strick nehmen und dich anseilen über meinem Bett als schlechten Traumfänger. Gerade hatte ich ein Rendezvous mit Tashi Tseringma, der Himmelswandlerin. Wir standen oben. Ganz oben. Über uns nur Himmel. Kein Höher. Kein Weiter. Nur Weite. Weite und Wolken. Wolken, die vorüberziehen. Weiter nichts.

EXPEDITIONSLEITER:
Also doch: Hermann, der Gipfelsammler … (freudenrufe im hintergrund aus dem walkie-talkie.) Gratulation. Von mir und von den Jungs auch. Kleingläubig wie ich bin, glaubte ich schon… Wo steckst du? Over.

HERMANN:
Was heißt: wo stecke ich? Wo soll ich denn stecken? In meinem Bett stecke ich. Zuhause. Wo sonst?

EXPEDITIONSLEITER:
Hermann, die Berggeister sind dabei in Aufruhr zu geraten: gerade haben wir den Wetterbericht reinbekommen. Laß alles stehen, alles liegen. Schnapp dir deine Siebenmeilenstiefel, und dann auf und davon. Runter vom Berg. Bis zum Ende des Tages ins vorgeschobene Basislager, das schaffst einer nur. Und dieser eine, das bist du. Mach uns die weiße Krähe, die auf eiligen Schwingen ins Basislager schwebt. Over.

HERMANN:
Kann es sein, mein Freund, daß du von Zeit zu Zeit die falschen Drogen nimmst? Oder habe ich gestern Nacht irgendwas verpaßt? Also gut. Du willst die Vogelnummer? Du bekommst die Vogelnummer. (öffnet die augen. richtet sich auf.) In eine Stunde spätestens kommt die weiße Krähe geflogen und setzt sich nieder auf deinen Fuß… – Oswald, eine Frage nur: Wo, habe ich gesagt, stecke ich gerade?

EXPEDITIONSLEITER:
Zuhause. Wo sonst? Over.

HERMANN:
Und wo ist das, mein Zuhause?

EXPEDITIONSLEITER:
Dein Zuhause? Das ist das Land des Schnees. Land der Felsen. Dein Zuhause, das sind die senkrechten Wüsten dieser Welt. Over.

HERMANN:
Scheint so, als wäre ich Zuhause… Und du? Wo steckst du gerade?

EXPEDITIONSLEITER:
Ich hocke vor dem Küchenzelt, nur 3000 Höhenmeter unterhalb von dir. Willst du, daß ich winke? Gut, ich winke. Jetzt. (rufe aus dem hintergrund: „Guten Morgen.“ und „Hallo Hermann!“) – Hermann, ist alles in Ordnung? Over.

HERMANN:
Abgesehen von dem Kühlschrank, der auf meinem Bein liegt: Ja.

EXPEDITIONSLEITER:
Ein Kühlschrank? Was für ein Kühlschrank? Over.

HERMANN:
Mach dir deswegen keine Sorgen. Gleich werde ich aufwachen. Und dann ist der Kühlschrank fort. Die Kristallklingen in meiner Kehle. Der Berg. Die Schneeterrasse. Alles fort. Fort die Dämonen. Die Halluzinationen. Fort der Mann, der behauptet ich selbst zu sein. Auch du mein Freund, wirst fort dann sein. Ich glaube, es ist besser, ich lege jetzt auf. Sobald ich aufgestanden bin, und sofern ich mich dann erinnere an dieses Hirngespinst, rufe ich dich zurück.

EXPEDITIONSLEITER:
Her…!

(hermann schaltet das walkie-talkie ab.)

(…)