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STURMHÖHE – Interview

‚Eindringlich‘ ist vielleicht das richtige Wort

Anne Clark und Murat Parlak über STURMHÖHE

 
Ronald Klein: Ist Ihnen Emily Brontë als Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts persönlich wichtig?

Anne Clark: Da ich in England aufgewachsen bin und Literatur, besonders die Literatur der Romantik sehr liebe, bin ich mit ihrem und auch mit dem Werk ihrer Schwestern sehr vertraut. „Wuthering Heights“ ist ein wundervoller Roman, welcher später im 20. Jahrhundert zu einem sehr schönen Film wurde. Außerdem sind wir uns wahrscheinlich alle der Verbindung zu Kate Bush bewusst. Man kann also durchaus sagen, dass Emily Brontë und ihr Werk immer in meinem kulturellen Hintergrund umhergegeistert sind. Ich weiß allerdings nicht, ob ich wirklich behaupten kann, dass sie für mich persönlich wichtig gewesen wäre. Erst als Kai mich dazu gebracht hat, mich mehr auf ihre Lyrik zu konzentrieren, habe ich etwas in ihrem Werk entdeckt, das für mich viel tiefgreifender ist als „Wuthering Heights“.

Ronald Klein: Sturmhöhe wurde in keiner literarischen Tradition geschrieben, der Erzählstil ist also völlig neuartig für die damalige Zeit. Gibt es noch andere Autoren der Romantik, für die Sie sich interessieren?

Anne Clark: Tatsächlich interessiere ich mich eher für die Lyriker wie zum Beispiel William Blake oder John Clare. Ich weiß nicht, ob Clare außerhalb von England besonders bekannt ist. Man nannte ihn den „Bauerndichter“ – ein verrückter Kerl, der sich das Lesen und Schreiben autodidaktisch beigebracht und unglaublich schöne und tiefsinnige Lyrik verfasst hat. Aber natürlich gibt es auch solche Autorinnen wie Mary Shelley mit Frankenstein, eine weitere außergewöhnliche Entwicklung innerhalb der Literatur. Oder Edgar Allan Poe. Ich weiß nicht ganz, wie ich es beschreiben soll – ‚eindringlich‘ ist vielleicht das richtige Wort. Ja, da ist etwas sehr Eindringliches an dieser Literatur, das die Menschen über die Jahrzehnte hinweg fasziniert hat. Nicht nur in der englischen, sondern auch in der französischen oder deutschen Literatur. Die Zeiten, in denen diese Werke geschrieben wurden, waren so von Revolution und Wandel geprägt, dass sie noch bis in die heutige Zeit nachklingen.

Ronald Klein: Die Stücke, die Sie zum Hörspiel beigesteuert haben, sind relativ einfach in dem Sinne, dass sie nur aus Klavierstimme und Anne Clarks Gesang bestehen. Können Sie mir etwas zur Entstehung der Stücke sagen?

Murat Parlak: Das war ganz lustig. Als wir die Vorlage von Kai bekamen, dass wir dieses Stück machen dürfen, war Anne in England und ich in Deutschland und, um ehrlich zu sein, hatten wir nicht die Zeit, um hin und her zu fliegen. Das wollten wir am Anfang auch gar nicht. Ich habe einfach mal drauf los musiziert. Ich habe, ohne mich vorher tiefsinnig mit dem Texten befasst zu haben, einfach ein paar Skizzen aufgenommen. Ich habe einfach nach Gefühl Musik geschrieben und schickte Anne dann drei Skizzen und ein paar Wochen später wieder weitere drei Skizzen und dann wieder zwei Skizzen und irgendwann hatte Anne zehn oder elf Stücke. Dann wartete ich erst mal, was passiert. Nach einer Weile hat sie diese Stücke mit Stimme versehen und zurückgeschickt. Ich habe gedacht: Das ist fantastisch. Wir haben wirklich nicht geprobt. Es waren quasi zwei Zimmer in zwei verschiedenen Ländern. Dann haben wir uns hier im Studio getroffen und wir haben das in einem Rutsch aufgenommen. Das ist die ganze Story.

Ronald Klein: Das heißt also, dass es gar keine Proben gab?

Anne Clark: Nein, Proben sind für Amateure (lacht).

Ronald Klein: Haben Sie zum ersten Mal so gearbeitet?

Anne Clark: Nein, es ist die Art zu arbeiten, die ich liebe. Man kann Dinge von vielen verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten. Man kann jemanden wie Emily Brontë oder auch Rilke mit Samthandschuhen anfassen, oder man kann sich überlegen, wie diese Texte Menschen auch heute noch berühren können. Was funktioniert, was funktioniert nicht? Wenn Menschen das Hörspiel hören, dann will ich, dass sie etwas dabei fühlen. Ich will nicht, dass sie sich überlegen, wie sie es zu interpretieren haben. Ich will, dass sie ein schlichtes aber tiefes Erlebnis beim Hören haben. Ich glaube, dass man vieles verkomplizieren kann, wenn es um Musik geht. Ich war schon oft in der Situation, dass ich im Studio saß und versucht habe, alles zu strukturieren und es dann zu diskutieren. Genau dann verliert ein Projekt seine Seele. Ob es funktioniert oder nicht, oder ob man noch etwas verändern muss, weiß man relativ schnell.

Ronald Klein: Können Sie sich vorstellen, die Stücke auch auf der Bühne vorzuführen?

Anne Clark: Auf jeden Fall! Das würde ich sehr gerne tun. Die Möglichkeiten sind eigentlich unbegrenzt. Wir haben die Stücke für das Hörspiel nur für Klavier und Gesang arrangiert, aber warum sollte man es nicht auch mal mit einem Symphonieorchester probieren? Oder mit einem Quartett, oder mit einem Ensemble aus altertümlichen Musikinstrumenten, oder mit Jazz-Musikern? Wie auch immer – die Möglichkeiten sind wirklich unbegrenzt!

Ronald Klein: Reden wir über das Bild der Frau in der Literatur und auch in der Musik. Kann man behaupten, dass Autorinnen im 19. Jahrhundert wie Musikerinnen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Probleme haben, sich zu behaupten? Als Beispiel nenne ich hier nur Nico, die immer als das „Ex-Mitglied von Velvet Underground“ oder das „Ex-Model“ wahrgenommen wurde, aber nie als Komponistin oder Musikerin. Gibt es solch eine Parallele?

Anne Clark: Ja! Selbst in diesen aufgeklärten Zeiten müssen Frauen in der Musikindustrie doppelt so hart arbeiten, um ernst genommen zu werden, zum Beispiel als Technikerin. Ich denke aber, dass sich schon viel getan hat. Im 19. Jahrhundert gab es sehr revolutionäre Frauen wie Mary Shelley oder ihre Mutter Mary Wollstonecraft. Sie schrieben Dinge wie Frankenstein, eine der ersten richtigen gothic novels, oder engagierten sich für die Rechte der Frauen. Kürzlich habe ich etwas Schreckliches gelesen. Es gibt dieses britische Magazin namens „Granta“, das oft Essays zu den Themen Literatur, Kunst und Politik veröffentlicht. Die Macher dieses Magazins denken, dass sie besonders intellektuell und smart wären. Es gab unter anderem eine Rezension zu einer Biographie über Nico und alles, was der Rezensent über sie zu sagen hatte, war, dass sie „diese lächerliche Sängerin“ war. Ich dachte mir nur: „Mein Gott! Hat der auch nur einmal etwas von Nico gehört?“ Wissen Sie, wenn in der Rockmusik irgendein Kerl drogenabhängig ist und versucht, möglichst Rock n‘ Roll zu sein, dann ist das cool. Nico war in dieser Hinsicht auch kein unbeschriebenes Blatt, aber sie war eine unglaublich gute Komponistin, Autorin und Sängerin. Ich kannte sie nicht besonders gut, aber ich habe sie am Anfang meiner Karriere glücklicherweise ein paar Mal getroffen. Obwohl ihr Leben ein Scherbenhaufen war, war sie als Performerin noch immer absolut hypnotisierend. Ich glaube also schon, dass die Welt für Frauen und Männer immer noch unterschiedlich ist.

(Übersetzung aus dem Englischen: Ana Kohler)