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Foto © Kai Grehn

ON THE DUTY OF CIVIL DISOBEDIENCE – Interview

Es geht um die Geschenke, die einem im Leben zuteil werden

Gary Farmer über CIVIL DISOBEDIENCE

 
Ronald Klein: Herr Farmer, korrespondiert das Erschaffen von Kunst mit dem Vermitteln einer Botschaft?

Gary Farmer: Ja, mit Sicherheit. Ich lernte in den 1970er-Jahren den Opernsänger James Buller kennen, einen Cree-Indianer aus Saskatchewan. Er gründete eine Organisation, die sich „Association for Native Development in the Performing and Visual Arts“ nannte. Sie existiert noch heute, nennt sich ANDVA und ist in Toronto ansässig. Sie hilft jungen indigenen Künstlern, ihren Weg in der bildenden und darstellenden Kunst zu finden. Das war um 1974 in Nordamerika ein Novum. Buller gründete eine Theaterschule und so kam ich, zu der Zeit noch Fotograf, zum ersten Mal mit dieser Kunstform in Berührung. Buller, dem ich zu Dank verpflichtet bin, fungierte als mein Mentor. Durch ihn habe ich den Prozess des Theatermachens begriffen und begann, das Theater als Vehikel für Veränderungen zu begreifen. Ähnlich den Bauern in Mittel- und Südamerika, die versuchten, sich dem Druck, Kakaobäume anzubauen, zu widersetzen. Sie nutzten das Theaterspiel, um einander zu informieren und zu ermutigen. Damals wie auch heute brauchen wir Veränderungen. Sie kennen sicher den hohen Verbreitungsgrad von Diabetes und anderen Krankheiten unter der indigenen Bevölkerung, und auch die Folgen, die Indianische Internatsschulen für ganze Generationen hatten, ganz zu schweigen vom Genozid an den Ureinwohnern Amerikas, über den noch immer niemand sprechen will. Ich sah die Situation meines Volkes, auch die meiner eigenen Familie, und ich wollte es besser machen. Zuerst dachte ich, ich sollte mich der Soziologie zuwenden oder mit den Leuten auf der Straße arbeiten, aber dann wurde mir klar, dass ich als Performer ein größeres Publikum erreiche und eine breitere Öffentlichkeit informieren kann. Ich hoffe, das einige meiner Arbeiten diesem Anspruch auch gerecht werden. Wenn man Menschen zum Lachen und Weinen bringen kann, kann man sie auch zum Denken bringen. Und wenn man sie zum Denken bringt, hat man seine Arbeit getan.

RK: Von der Ästhetik zur Freiheit. Das ist etwas, das Schiller vor 200 Jahren propagierte. Seine Idee lautete, die Zuschauer im Theater zu einer Katharsis zu führen, die sie bemächtigt, eine Veränderung herbeizuführen.

GF: Viele Menschen, gerade in der indigenen Bevölkerung, können keine Entscheidungen treffen, einfach weil ihnen Informationen fehlen.

RK: Ich glaube, es ist für das politische System wichtig, Informationen vorzuenthalten, denn wären alle gebildet, so käme es zu Veränderungen.

GF: Ja, ich denke, darum wurde den Amerikanern die Bildung vorenthalten, weil das Land so sehr mit Kriegen beschäftigt war, dass kein Geld investiert wurde, um die Menschen vernünftig zu bilden. Ich glaube, wir werden im Laufe der Zeit zunehmend die sozialen Auswirkungen davon zu Gesicht bekommen. Die Kultur hier besteht in gewisser Weise fast nur aus Baseball. Daher glaube ich, dass es die Rolle des Künstlers ist, wenigstens einen Teil dieser fehlenden kulturellen Arbeit zu leisten. Es ist ein fortwährender Kampf für Künstler in Amerika einerseits sich eine Karriere aufzubauen und gleichzeitig ein Leben lang das zu tun, von dem man glaubt, dass es getan werden sollte. Also, Hut ab vor denen, die das schaffen. Die Mächtigen haben Angst vor Künstlern, vor eigenständig denkenden Menschen, besonders nach 9/11, was meine Laufbahn als Schauspieler dramatisch beeinflusst hat.

RK: Auf welche Weise?

GF: Ich denke hierbei insbesondere an das indigene Amerika. Vor Jahren wurde ich in diese Schublade gesteckt, auf Grund meiner Rollen in den Filmen „Dead Man“, „Smoke Signals“ oder “Powwow Highway“. So wurde ich zu einem indigenen Schauspieler, und wie Sie wissen, sind die Ureinwohner hier in gewisser Weise noch immer der Feind. Das liegt an einem Mangel an Verständnis, an der Ignoranz gegenüber unserer Kultur. Und ständig stehen wir jemandem im Wege. Viele von uns wurden in ländliche Gegenden verbracht, umgesiedelt. Vor allem deswegen, weil sich 90 Prozent des weltweiten Urans unter dem Land der amerikanischen Ureinwohner befindet, und weil unter diesem steinigen und wüsten Land ein großer Reichtum an Mineralien liegt und an Öl. Daraus resultieren fortwährende Vertreibungen und ein ständiger Kampf um Rechte. Inzwischen haben wir sogar weniger Freiheiten als in den 1960-Jahren. Man muss hier, und ich vermute in der ganzen Welt, in jeder Generation neu um diese Dinge kämpfen: das Recht zu sprechen, das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht selbst zu denken. Hinzu kommen die erstaunliche Manipulation und Kontrolle durch die Medien. Es ist wirklich schwierig, eine Botschaft in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Weniger als fünf Prozent aller Menschen gehen ins Theater. Man predigt, sozusagen, überwiegend für die schon Überzeugten. Aber wir müssen Mittel und Wege finden, unsere Geschichten an die Öffentlichkeit zu bringen.

RK: Sie sagten, dass es nach 9/11 schwieriger wurde. Aber was ist mit Barack Obama? Hat sich durch ihn irgendetwas geändert?

GF: Es geht noch immer um das System, die Bürokratie. Wir sprechen von einer Maschinerie. Entweder passt du dich an, oder du wirst nicht bezahlt. Ich erinnere mich noch daran, dass mein Vater sagte, du kannst die Hand nicht beißen, die dich füttert. Das gilt in Amerika noch immer. Wir machen mit, zahlen unsere Steuern, versuchen, nicht aufzufallen. Die meisten Amerikaner wissen nicht, dass das Land in den letzten 150 Jahren gegen 150 Länder Krieg geführt hat. Mit Krieg verdienen wir Geld und kurbeln die Wirtschaft an. Über die Konsequenzen machen wir uns keine Gedanken. Diese Ökonomie treibt noch immer die ganze Welt an.

RK: Der deutsche Schriftsteller Heiner Müller hat gesagt: „Geld ist der letzte Wert, aber das ist nicht genug, eine Gesellschaft zusammen zu halten.“ Gibt es noch andere Werte außer Geld, die die USA, z. B., zusammenhalten?

GF: Ich denke, es gibt noch eine kulturelle Ebene, beispielsweise die Musik- oder die Filmkultur. Noch existiert eine gewisse Bildung oder Sozialisierung, die unterschiedliche Menschen auf einem höheren Niveau zusammenbringt. Aber wie Thoreau es sinngemäß formulierte: „Zeig mir Tausend ehrliche Männer, zeig mir Hundert ehrliche Männer, einen Mann, der so leben kann, wie er fühlt und glaubt.“ Das ist schwerer denn je, weil der ökonomische Druck in den letzten Jahren immens gewachsen ist. Die Menschen leiden unter den wirtschaftlichen Zuständen…

RK: Sie haben in dem Hörspiel „Civil Disobedience“ Henry David Thoreau Ihre Stimme geliehen. Der amerikanische Autor starb vor 150 Jahren. Jedoch erscheint sein Text alles andere als verstaubt.

GF: Er ist in der Tat sehr aktuell. Aber er enthält für mich auch eine persönliche Komponente. Seit dem Film „Powwow Highway“ halte ich Vorträge an amerikanischen und kanadischen Universitäten, um die Studenten dazu zu bewegen, über ihr Handeln wirklich nachzudenken. Ich kann sehr leidenschaftlich darüber sprechen, wie ich fühle und woher meine Überzeugungen stammen. Ja, es war unsere indigene Six Nations Confederacy, die die Verfassung der Vereinigten Staaten und damit die westlichen Demokratiemodele beeinflusst hat, aber es funktioniert nicht, weil unsere Beziehung zu Mutter Erde nicht verstanden wurde. Wir alle kommen aus Mutter Erde und werden zu ihr zurückkehren. Daher muss man ihr Respekt entgegenbringen und Aufrichtigkeit. Ich glaube noch immer, dass wir, die indigenen Völker anderen Menschen helfen können zu verstehen, was wirklich passiert ist, dass es Mitgefühl gibt, dass wir Veränderungen vornehmen und dass wie wir dadurch wachsen können. Das wird aber nicht passieren, solange das Land nicht akzeptiert, die Ureinwohner Amerikas als ihresgleichen anzusehen. Selbst in meiner erfolgreichen Zeit als Schauspieler gab es viele Schauspieler, die es schwer mit mir hatten, weil ich ihnen gleich gestellt war. Und dieses Gefühl ist noch immer da, dieses Ungleichgewicht: „OK, ich muss dich akzeptieren, daher tue ich es“. Aber eben nicht gerne. Solange sich das nicht ändert, glaube ich nicht, dass wir über den großen Berg gekommen sind. Alle sagen zwar, dass sie den Minderheiten gegenüber fair sein werden. Sie sagen, dass sie etwas Höheres anstreben wollen, aber sie sprechen jahrelang nur darüber, bevor sie etwas ändern. Es fällt ihnen schwer, das zu tun, weil sie die Macht besitzen. Niemand möchte gerne Macht abgeben. Aber ich tue es aus Überzeugung. Es geht nicht darum, wie ich überleben kann, indem ich mich an jedwede Form von Macht klammere. Es geht um die Geschenke, die einem im Leben zuteil werden. Und in diesem Sinne, ja, „Civil Disobedience“ kam direkt aus meinem „Schrei“. – Gutes Casting!

(Übersetzung aus dem Amerikanischen: Wolfgang Müller, Ronald Klein und Kai Grehn)